Riemann-Thomann-Modell erklärt
Vertiefen Sie Ihr Wissen über das Riemann-Thomann-Modell: Grundlagen, Konzepte und praktische Anwendungen.

Einführung in das Riemann-Thomann-Modell
Das Riemann-Thomann-Modell oder Riemann-Thomann-Kreuz ist ein noch recht junges Glied in einer jahrhundertealten Kette: das Innenleben der Menschen und ihre Psyche zu verstehen und in ein System kategorisieren zu können. Bereits in der Antike versuchte es Hippokrates mit der Humoraltheorie. Vorreiter der neuzeitlichen Modelle war der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung.
Das Riemann-Thomann-Modell eignet sich besonders, um zu verstehen, wie sich Konflikte entwickeln und warum (kommunikative) Maßnahmen, die bei dem einen Menschen wunderbar funktionieren, bei anderen effektlos verpuffen oder sogar Gegenwehr auslösen. Grundsätzlich geht das Modell davon aus, dass jeder Mensch vier verschiedene Strebungen in sich vereint: Nähe, Distanz, Dauer und Wechsel. Wichtig: Jeder Mensch verfügt über jede Strebung, nur sind sie bei uns allen unterschiedlich ausgeprägt. Ein individueller Fingerabdruck unseres Inneren sozusagen.

Wer waren Fritz Riemann und Christoph Thomann?
Obwohl das Modell nach ihnen benannt ist, haben Fritz Riemann und Christoph Thomann Zeit ihres Lebens nie direkt zusammengearbeitet. Riemann beschrieb in seinem Buch „Grundformen der Angst“ (1961) wie diese jeweils mit bestimmten Persönlichkeitsmustern einhergehen. Er arbeitete tiefenpsychologisch, eher im klinischen Sinn, und ordnete den Ängsten vier Tendenzen zu:
- Distanz (Schizoide Tendenz)
- Nähe (Depressive Tendenz)
- Dauer (Zwanghafte Tendenz)
- Wechsel (Hysterische Tendenz)
Thomann übernahm später diese vier Pole, löste sie aber aus dem pathologischen Kontext und transformierte sie in ein alltagstaugliches, humanistisch-systemisches Persönlichkeits- und Kommunikationsmodell. Er definierte die vier Grundrichtungen als Persönlichkeitsausprägungen im normalen Spektrum menschlichen Verhaltens. Daraus entwickelte er ein Modell, das hilft Kommunikationsstile besser einzuordnen, menschliche Unterschiedlichkeiten zu verstehen und in Konflikten handlungsfähiger zu bleiben.
Zu Ehren von Riemann nannte er sein Ergebnis das Riemann-Thomann-Modell, obwohl Fritz Riemann nicht direkt an der Ausarbeitung beteiligt war.
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Persönlichkeitstypen nach Riemann und Thomann
Christoph Thomann hat die vier Strebungen in Form eines Koordinatenkreuzes angeordnet. Noch einmal: Jeder Mensch trägt jede der vier Strebungen in sich, die in unterschiedlichen Kontexten und Beziehungskonstellationen verschieden stark ausgeprägt sein können.
Hier die vier einmal in Reinkultur mit dem Fokus auf die Arbeitswelt und das Verhalten im Konflikt.
Die Nähe-Strebung

Die Nähe-Strebung in uns Menschen ist der Wunsch nach Zugehörigkeit und Beziehung. Menschen, bei denen sie ausgeprägt ist, fungieren oft als Klebstoff im Team. Sie halten die einzelnen Player zusammen, haben immer ein offenes Ohr oder Zeit für einen Kaffee und legen besonders großen Wert auf persönliche Begegnungen. Chef, Kollegen oder Firma werden als Familie gesehen.
Da Menschen mit einer ausgeprägten Nähe-Strebung der persönliche Kontakt sehr wichtig ist, kommen sie gerne ins Büro und erwarten das auch von ihren Mitarbeiterinnen und Kollegen. Ein Thema mit viel Konfliktpotenzial in den letzten Monaten und Jahren, das aber häufig (nicht immer) gar nicht aus einem Kontrollbedürfnis heraus entsteht.
Konflikte sind insbesondere für diese Menschen ein echter Horror. Natürlich, die wenigsten Menschen „mögen“ Konflikte, bei den meisten von uns verursachen Meinungsverschiedenheiten eine Form von Stress. Für Menschen mit ausgeprägter Nähe-Strebung ist dieses Gefühl allerdings besonders ausgeprägt. Der Umgang mit Aggressionen und Affekten, wie sie uns in Konflikten begegnen, werden zur Herausforderung: Wie kann man aggressiv sein, wenn man sehr darauf angewiesen ist, als sympathisch wahrgenommen und gemocht zu werden? Und wenn man sich als abhängig von einem Menschen und dessen Zuwendung erlebt, kann man nicht konfrontieren, denn man riskiert einen Kontaktabbruch – so zumindest die Angst.
Deswegen gehen diese Menschen in ein Ausweichmanöver: Sie sprechen mit anderen Menschen darüber – kommunizieren also „hintenrum statt vorneherum“ oder sie leugnen Konflikte so lange wie möglich. Wirklich wütend oder konfrontierend können sie nur dann sein, wenn sie die Sicherheit haben, dass das keine negativen Folgeschäden für die Beziehung zu der anderen Person hat.
Die Distanz-Strebung
Begriffe, die eine ausgeprägte Distanz-Strebung in uns Menschen kennzeichnen, sind unter anderem:
- Abgrenzung
- Alleinsein
- Individualität
- Rationalisierung
- Fakten
- Stolz
Menschen mit ausgeprägter Distanz-Strebung brauchen das Gegenteil von „Nähe-Menschen“, um sich wohlzufühlen. Sie streben nach Unabhängigkeit und Freiheit, sind eher individualistisch und schätzen vor allem rationales Denken und Handeln. Ihre Freiheit aufzugeben ist ein No-Go, denn daraus resultiert in ihrer Wahrnehmung Abhängigkeit und Verlust des Ichs. Deshalb haben sie häufig Angst vor emotionaler Nähe und Bindung.
Was bedeutet das für den Arbeitskontext?
Menschen mit ausgeprägter Distanz-Strebung arbeiten gerne allein. Soll es doch mal das Teamwork sein, teilen sie die Arbeit so auf, dass jeder seinen Bereich am Ende doch wieder allein bewältigen kann. Meetings sind für sie eher schwierig, der Nutzen wird oft nicht erkannt. Dafür bestechen sie mit scharfer Beobachtungsgabe, Ideenreichtum, sachlicher Kritik und treffender Intuition. Am besten gibt man ihnen ein Einzelbüro, um ihre Arbeit zu unterstützen.
„Distanz-Führungskräfte“ werden oft als kühl wahrgenommen, da sie sehr sachlich, offen und direkt kommunizieren. Emotionen gehören für sie ins Private und mit Konflikten unter Mitarbeitenden möchten sie eher nichts zu tun haben.

Die Dauer-Strebung

„Ordnung ist das halbe Leben“ und „Vorsicht ist besser als Nachsicht“. Die deutsche Sprache bietet ein ganzes Repertoire an Sinnsprüchen, denen Menschen mit ausgeprägter Dauer-Strebung aus vollem Herzen zustimmen würden. Sie haben ein großes Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit, das sie mit Kontrolle und Planung erfüllen möchten.
Im Kontext der Arbeitswelt haben wir es hier mit Perfektionisten zu tun, die aufgrund detailgenauer Planung und mehr als sorgfältiger Ausführung oft etwas langsamer vorankommen als ihre Kolleginnen. Dafür sind sie gewissenhaft, lassen selten Termine platzen, eignen sich hervorragend als Organisatoren und Controller und sind loyale Mitarbeiter, die sich mit dem Arbeitgeber identifizieren.
„Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren“ ist das Motto der Dauer-Führungskräfte. Das mag erst einmal oldschool klingen, aber sie arbeiten ebenfalls gern mit Belohnungen und sind an einem guten Klima im Team interessiert, das sie wiederum auf gute Führung zurückführen. Am besten geht es ihnen, wenn sie alles im Griff und Blick haben. Führungskräfte mit ausgeprägter Dauer-Strebung sind keine Visionäre, die das Unternehmen auf die nächste Stufe heben, aber gute operationale Umsetzer.
Wie zeigen sich Menschen mit ausgeprägter Dauer-Strebung im Konflikt? Schauen wir auf einige Begriffe, die die Dauerausprägung beschreiben:
- Sicherheit
- Überblick
- Planung
- Kontrolle
- Plicht
- Konsequenzen
- Tradition
Mit dieser Liste im Hinterkopf können Sie sich vielleicht vorstellen, wie Menschen mit prominenter Dauer-Strebung während einer Konfliktsituation reagieren: Sie zeigen sich oft rechthaberisch, fixieren sich schnell in einem Standpunkt und es fällt ihnen schwer, die Perspektive zu wechseln. Dadurch wirken sie steif und verhärtet bis hin zu moralisch abwertend.
Die Wechsel-Strebung
„Sei im Fluss und lass es fließen“ – Menschen, die diesem Grundsatz folgen, sind Vertreter mit stark ausgeprägter Wechsel-Strebung. Bei ihnen stehen Flexibilität, Improvisation und Dynamik im Mittelpunkt. Ihre Neugier und ihr Wunsch nach Aufmerksamkeit sind ihr Lebenselixier. Bei Change-Prozessen stehen sie an der Seite der Führungskräfte. Wenn es aber darum geht, feste Strukturen zu etablieren, routiniert zu arbeiten oder detaillierte Maßnahmenpläne umzusetzen, langweilt sie das schnell. Ihnen ist ein lockeres und spaßiges Arbeitsklima wichtig für den Erfolg – andernfalls sind Konflikte vorprogrammiert.
Als Führungskraft schätzen Vertreter mit ausgeprägter Wechsel-Strebung ein lockeres Arbeitsklima und zeichnen sich als Motivationspole aus. Gleichzeitig werden Aufgaben von ihnen gern „zwischen Tür und Angel“ delegiert. Je nach Präferenz dürfte ihre hohe Fehlertoleranz – ein „Mach mal, passt schon“ und die „Nobody is perfect“-Mentalität – manche beruhigen, bei anderen aber den Puls in die Höhe schnellen lassen.

Was erwartet Sie in Konflikten mit Menschen, die eine stark ausgeprägte Wechsel-Strebung in sich tragen? Wie können Sie sie begleiten und unterstützen? Stellen Sie sich für einen Moment einen Konflikt mit Pippi Langstrumpf vor. Menschen mit starker Wechsel-Strebung neigen in Konflikten dazu, zu dramatisieren und ihr Gegenüber zu überrumpeln. Sie reagieren oft beleidigt und stellen die Wirklichkeit fantasievoll dar. Meistens so, dass es für sie einen Vorteil birgt. Ganz nach dem Motto: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“
Um Konflikte mit Wechsel-Menschen konstruktiv zu klären, ist es wichtig, Geduld zu bewahren. Da sie oft emotional reagieren, ist es hilfreich, ihnen Zeit zu geben, um sich zu beruhigen. Direkte Konfrontationen gilt es zu vermeiden, da Menschen mit einer ausgeprägten Wechsel-Strebung im Kontakt und im Konflikt dann schon mal schnell aus der Beziehung flüchten. Gestalten Sie das Gespräch stattdessen so, dass es die Person nicht bedrängt, sondern in eine konstruktive Richtung lenkt. Fragen, die zum Nachdenken anregen, ohne zu belehren, funktionieren ebenfalls sehr gut, da sie die Reflexion anregen.
Anwendungen des Riemann-Thomann-Modells in der Praxis
Das Riemann-Thomann-Kreuz eignet sich für eine Reihe von Anwendungsbereichen. Als Klärungshelferin ist für mich natürlich das Feld der Konfliktklärung und die Entstehung von Konflikten besonders spannend. Das Kreuz eignet sich aber auch hervorragend, um Teamdynamiken zu analysieren und Mitglieder besser aufeinander abzustimmen sowie gegenseitiges Verständnis zu fördern. So lässt sich beispielsweise auch die Rollenverteilung im Unternehmen optimieren und auf individuelle Stärken ausrichten.
Zu guter Letzt können Sie das Kreuz beziehungsweise den dazugehörigen Fragebogen natürlich auch nutzen, um das eigene Verhalten und Ihre Wirkung auf andere besser zu verstehen.
Kritikpunkte und Kontroversen
Das Riemann-Thomann-Modell ist praxisnah und anschaulich, eignet sich gut zur Selbstreflexion und als Kommunikationshilfe in Gruppen. Es sollte jedoch nicht als wissenschaftlich fundiertes Tool verstanden werden, denn das würde zu weit greifen.
Der größte Kritikpunkt an dem Modell thematisiert genau das: Das Modell basiert auf den existenzphilosophischen Ansätzen von Fritz Riemann, einem Psychoanalytiker, nicht auf empirisch validierten psychologischen Studien, die er nicht durchgeführt hat. Auch Thomann hat das Modell zwar populär gemacht, das aber nicht durch großangelegte Studien untermauert.
Einige Kritiker bemängeln auch, dass das Modell die komplexe menschliche Psyche zu vereinfacht darstellt. Meine Erfahrung zeigt, dass das Riemann-Thomann-Kreuz insbesondere im Bereich der Konfliktklärung viele Vorteile mit sich bringt, da es gut verständlich ist. Die kritisierte Vereinfachung kann im Konfliktfall durchaus helfen, denn hier hangeln wir uns sowieso bereits an vielschichtigen und komplexen Situationen entlang. Natürlich sollte es mit kritischer Distanz eingesetzt werden und nicht zur Etikettierung von Personen führen. Wie schon eingangs erwähnt: Jeder von uns trägt jede Strebung in sich.
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